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AutorenbildFilialleitung@Ideensupermarkt

Die Wege der Liebe (seltsam).

„I want - I can“. Leander sprach diesen Satz so nachdrücklich und kraftvoll aus, dass es einfach klappen musste. Heute würde er seine ganz große Liebe treffen. „Es kann alles passieren, wenn du nur fest daran glaubst.“ So hatte Leonie es in ihrem Happyguide Tutorial gesagt. Und Leander glaubte fest daran, dass es heute passieren würde. Er schlüpfte in seine abgetragenen Sneaker der Marke Esmara, zog den Zipper seiner dunkelblauen Bomberjacke der Marke Jack&Jones nach oben, und ballte seine kleinen Fäuste siegessicher zusammen. Wo es wohl passieren würde? In der U-Bahn Linie 1 zwischen den Haltestellen Wandsbeker Chaussee und Wandsbek Markt? In dem kleinen Kiosk, in dem er sich vor seiner Arbeit als Telefonservicemitarbeiter für die Firma Vodafone GmbH noch einen Filterkaffee für den Weg holen würde? Oder einfach so auf der Straße, auf der er die etwa 800 Meter von der U-Bahn-Haltestelle in das schäbige Callcenter-Gebäude ging? Ein warmer Schauer aus Vorfreude und Erregung durchströmte seinen ausgemergelten Körper.


Er verließ das Mehrfamilienhaus, in dem er vor etwa 15 Jahren eine kleine Wohnung mit sogenannter Junggesellenküche, die Leander heutzutage wohl gendern sollte, gemietet hatte. An einer roten Ampel machte er halt. Er wollte offen und positiv sein, denn wie man in die Welt hineinruft, so ruft es zurück. Das hatte ihm nicht nur Leonies_Happyguide, sondern schon seine Oma Gertrud mit auf den Lebensweg gegeben.


Eine Mutter mit Kinderwagen stand neben Leander am Ampelmasten. Leander lächelte sie flüchtig an. Die Mutter blickte irritiert zurück, und rückte sich und den Kinderwagen etwa einen Meter fünfzig weit von Leander weg. „Du cringer Spast“ sagte ihr Blick, ohne dass sie dafür Worte formulieren musste. Leander fühlte sich, wie eine Mischung aus Perversling und debilem Vollpfosten. Aber davon würde er sich nicht unterkriegen lassen. „Rückschläge sind völlig normal“ murmelte er sich selbst zu, um wieder in diesen positiven „Flow“ zu kommen, von dem heute alle reden.


Leander richtete den Blick nach vorn. Auf ein schick gekleidetes junges Pärchen an der Ampel gegenüber, die eine Französische Bulldogge auf dem Arm trugen. Als die Ampel auf Grün umschaltete, und er in der Mitte des Fußgängerübergangs auf Höhe des Pärchens war, zwinkerte er erst dem Hund, und dann den beiden Personen zu. Dazu kommentierte er mit einem kaum hörbaren „der ist ja niedlich“. Die Frau reagierte mit grenzenloser Verachtung sowie einer Geste, die ihm sagte ,dass sein Verhalten ja wohl eine absolute Übergriffigkeit wäre, und ob er schonmal was von Konsens gehört hätte. Ausserdem sei ihr Hund kein „er“ sondern eine „sie“, und dass ihn das Geschlecht ihres Hundes einen Hundescheiss angehen würde. Das nächste Mal würde sie ihn anzeigen, wenn er noch einmal ihre persönliche Grenze überschreiten würde.


„Die war wohl gestresst“ sagte Leander sich. Und redete sich ein, dass das ausschließlich mit der anderen Person, und zu null Prozent mit ihm zu tun hätte. So leicht lässt sich ein Leander doch nicht entmutigen. Vielleicht hatte er das Verhalten auch nur völlig falsch interprätiert. Ja, das musste es wohl sein. Vielleicht hatte die Frau Airpods im Ohr, und sich gar nicht über ihn verächtlich gezeigt, sondern ihr eigenes Telefongespräch. Leander fasste neuen Mut. Nach einigen Metern der Selbstauseinandersetzung hatte er die U-Bahn-Station erreicht.

Auf der Treppe wurde er mehrfach angerempelt, und ein Döner essender Jugendlicher trat ihm auf den Fuß. Aber so war das eben, in der Großstadt. In der heutigen Zeit. Und wenn er erst in Zweisamkeit die Herausforderungen des Alltags meistern würde, dann würde er so ein bisschen Rempelei doch gar nicht mehr wahrnehmen. Die U-Bahn 1 Richtung Ohlstedt fuhr mit quietschende Rädern in den zugigen U-Bahn-Schacht ein. Leander erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, seine FFP2 Vogelmaske aufzusetzen, und erreichte nach erfolgreichem Kampf gegen ziellos marschierende Menschenmassen die Einstiegstür.


Da die U-Bahn sehr überfüllt war, war Leander froh, noch einen Randplatz an einem Vierersitz zu ergattern. Diese sich gegenüber befindlichen Sitze stammten aus einer Zeit, als Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln noch miteinander kommunizierten, dachte Leander. „Voll retro“.


Ein bulliger Typ saß mit ausgebreiteten Schenkeln auf dem Nebenplatz, und starrte auf das zerbroche Display eines Smartphones der Marke Medion. Leander verspürte einen kurzen Impuls, sein eigenes Smartphone herauszuholen, und wie gewohnt etwa 24 Runden Candycrush bis zur Station Alter Teichweg zu spielen. Aber er erinnerte sich an seine eigentliche, viel wichtigere Mission. War sie oder er vielleicht schon hier im Abteil? Die Liebe, die er suchte und – da war er sich sicher – auch finden würde? Leander setzte unter der FFP2 Vogelmaske ein bemühtes Lächeln auf, und versuchte, mit seinen Mitpassagier:innen in Blickkontakt zu kommen. Und es funktionierte! Eine Person im Abteil nahm seinen Blick auf. Und sie kam direkt auf ihn zu! Ein Obdachloser, der soeben mit seinem „Ich lebe auf der Straße“ Sprüchlein begonnen hatte, wankte in Richtung seines Vierersitzes. Alle anderen in der Bahn schauten schließlich weg. Und Blickkontakt, so vermutete Leander, hieß in der U-Bahn-Betteleisprache „komm her, ich hab Geld für dich“. Leander dachte an Karma, und dass Gutes wieder zu einem zurückkommt, und steckte dem Bettler in Erwartung ewiger Dankbarkeit einen zerknitterten 5-Euro-Schein zu. Der Bettler steckte den Schein wortlos weg, ging weiter seines Weges und nahm ohne weitere Pause sein Sprüchlein wieder auf „ich bitte um eine Spende für Essen“. Ohne dass er darüber nachdachte, flutschte der Spruch „Karma is a Bitch“ in Leanders Gedankenbrei.


Aber noch war nicht aller Tage Abend. Mit diesem toxisch-positiven Boomersprech-Spruch im Kopf verließ Leander die U-Bahn, die mittlerweile die Haltestelle „Alter Teichweg“ erreicht hatte.

Es groß in Kübeln, als er die Station in Richtung "Habichtstraße" verließ.


Mit einem Schlag fühlte Leander sich, wie ein Opfer. Nein er fühlte sich nicht nur so. Er war es. Er war das Opfer. Ein Opfer. Das hilflose Huhn. Und die Welt war der böse, böse Habicht. All die positiven Gedanken, die er noch am Morgen hatte, wurden vom Hamburger Starkregen weggewischt, wie eine Kinderrotznase von Mamas Taschentuch. Dicke Tränen schossen Leander in die Augen. Hatte Leonies_Happyguide doch nur einen Haufen haltlosen Bullshit erzählt? War er etwa einer nur an sich selbst interessierten Social Media Egomanin aufgesessen? Leander gestand sich ungern, aber überzeugt ein, dass dies wohl so sein müsste.


Dann dachte er über seinen heutigen, noch bevorstehenden Arbeitstag nach. Wie sollte er in dieser Stimmung die ohnehin echauffierten und von seinem Arbeitgeber Vodafone GmbH restlos enttäuschten Anrufer:innen besänftigen? Wie sollte er in den Gesprächen für eine Atmosphäre der Freundschaft und des „Together we can“ sorgen? Vielleicht genau so. Mit tiefem, echten Verständnis für Enttäuschungen und Glücklosigkeit. Mit wahrer Menschlichkeit. Mit Mitgefühl. Und wenn es nur über eine Beschwerde-Hotline war.

Leander spürte neuen Mut. Vielleicht wäre es ja eine Anruferin, die als große Liebe in sein Leben treten würde. Vielleicht auch ein Anrufer, denn Leander wollte dem Leben mit absoluter Offenheit und vorurteilsfreier Toleranz begegnen, auch wenn sich die Vorstellung davon, mit einem Mann Sex zuhaben, spontanen Brechreiz in ihm auslöste.


Vielleicht wäre es aber auch der Telefonhörer im Callcenter, für den Leander spontan eine Objektophilie* verspüren würde. Ja, das war wohl das Wahrscheinlichste. Warum hatte Leander noch nie darüber nachgedacht? Der weinrote Kopfhörer des Wähltelefons in der Wohnung seiner Eltern! Leander fiel es wie Schuppen von den Augen. Schon immer hatte es ihn erregt, den angegrabbelten Hörer des von der Deutschen Post zur Verfügung gestellten Telefonapparats, wie man in den 80er Jahren sagte, an Ohr und Wange zu schmiegen. Wie oft hatte er schon vor dem Spiegel gestanden, und lasziv das Wort „Telefonhörer“ über seine Lippen gebracht. Vor seinem Auge lief plötzlich ein Film ab. Die Hochzeitsmelodie. Eine kleine süße Weddingchappel in Las Vegas. Das vorfreudige Raunen der Gäst:innen. Er, Leander. Und der Telefonhörer von weißem Spitzengewand umhüllt.

Mit einem Mal wusste Leander, wer er war. Was er wollte. Und was der Sinn seines Lebens ist.


Leander H. entschied sich noch im selben Jahr zu einer eingetragenen Lebensgemeinschaft mit einem zu einem Wählscheibentelefon der Deutschen Post, Modell FeTap 791-1 gehörigen Telefonhörer. Die beiden leben in einer Mansardenwohnung im Hamburger Stadtteil Lattenkamp und sind sehr, sehr glücklich.


*Als Objektophilie wird die sexuelle Anziehung von Menschen zu unbelebten Objekten bezeichnet














- Serviervorschlag -





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