Seit vielen Jahren lebe ich im Hamburger Stadtteil Sankt Georg. Ein Stadtteil, der in allen Medien als multikulturell, queer und weltoffen beschrieben und gelobt wird. Dieser bunte Mix an Menschen. Die Vielfalt an Cafés und Restaurants. Der interkulturelle Austausch diversester Personen – und wenn es nur der Mate-Kauf beim Kioskbetreiber ist. Gerade noch auf einen Galao beim Portugiesen, dann vegane Sushiröllchen beim Vietnamesen, und danach einen kleinkindgroßen Gummiknüppel kaufen im schwulen Supermarkt. Sankt Georg ist Reiseführerromantik in Bestform.
Die Variationsbreite prominenter Persönlichkeiten, die einem in Sankt Georg begegnen gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Eben noch Udo Lindenberg beim Zahnarzt getroffen, dann Ina Müller beim Weinkaufen im Kiosk ertappt, dann einen berühmten Schauspieler, dessen Name einem nicht einfällt, an der Bushaltestelle erkannt und anschließend noch mit Personen, die 100k Social Media Followerinnen haben, einen fetten Joint inhaliert.
Wenn man den üblichen Regionalsender-Dokus im „Mecklenburg-Vorpommern mit dem Rad erleben“ Stil Glauben schenkt, ist Sankt Georg das New York Norddeutschlands. Das Mekka der Heiterkeit. Tägliche CSD-Demo. Viertel der Farben. Salatschüssel der Kulturen. Ein Hoffnungsschimmer in einer Welt am Abgrund.
Auf diesem Fest von Lebensfreude und Extrovertiertheit, darf ein pessimistisch-introvertierter Gegenpol auf keinen Fall fehlen: ich.
Statt ein Bad in alsternaher Glückseligkeit zu nehmen, mich in geselliger Runde mit all den freundlichen Menschen an authentischem Vinho Verde und eingelegten Madural Oliven zu laben, statt den Klängen lokaler Hobbychöre zu lauschen, nehme ich statt der Langen Reihe lieber den Schleichweg über die Straße Koppel, damit ich auch bloß keinem begegne. Der Weg zum Bahnhof ist das. Der Weg zum Glück vielleicht nicht.
Ich habe dieses Viertel geliebt, weil es ein richtiges Zuhause war. Eine Kleinstadt in der Großstadt, nur ohne Gartenzaunstreit. Heute empfinde ich die Lange Reihe als touristische Fressmeile. Tagein tagaus von einer Horde momentaufnahmenhungriger Heuschrecken heimgesucht, die sich die glorifizierte Heimat längst einverleibt hat. Ein kurzlebiger Snack, von dem man ein paar Instagram Fotos macht. Gierig reingebissen, den Mund abwischt und dann verlassen, wie eine Nutte, die einem verkauft hat, was man wollte.
Trotzdem bleibe ich hier. Weil ich hier hingehöre. Weil ich keine Multimillionärin bin, die sich überall ein Zuhause inklusive Freundeskreis erkaufen kann. Und weil es Momente ganz früh am Morgen gibt, wo die Lange Reihe noch das ist, was ich liebe.
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