„Frohe Weihnachten, meine Wunderbare“. Werner fummelte eine gefaltete Plastiklilie aus der Jackentasche seines abgewetzten Cordjacketts. Er hatte die Lilie aus den Beutelchen der Instant-Nahrung, die er und seine Frau Gudrun nun schon seit 9 Jahren zu sich nahmen, gefaltet. „Ach Werner, wir wollten uns doch nichts schenken“ stammelte Gudrun – die Freude über das besondere Geschenk dennoch nicht ganz verbergend. Wie lange schon hatte sie schon kein Blümchen mehr in den Händen gehalten!
Werner griff nach einem der umherfliegenden Schläuche, übergab ihn an Gudrun, und ergänzte „auf dich, meine Wunderbare“. Gudrun sog einen großen Schluck des 2011er Montepulciano D’Abruzzo ein, und seufzte. „Lecker is anders“.
Vor rund 5 Jahren war der Vorrat an Weißwein zu Ende gegangen, den sie auf der Raumstation gebunkert hatten. Nur weil diese bescheuerte Britta Ernst an Halloween 2037 den Hahn des Tanks offengelassen hatte. 30.000 Hektoliter waren damals einfach so in der dünnen CO2-Atmosphäre versichert.
Als Gattin des damaligen Hamburger Bürgermeisters gehörte Frau Erst selbstverständlich zu den ausgewählten 10.000 Bürger:innen, die am Vorabend der Apokalypse die Genehmigung erhielten, mit einem von Airbus in Finkenwerder gebauten Spaceshuttle auf den Mars immigriert zu werden. Und da wohnten sie seither. Gudrun, Werner, Olaf Scholz, Britta Ernst, Sylvie Meis, Udo Lindenberg, Cornelia Poletto und viele andere Hamburger:innen, die sich in dieser Stadt einen sogenannten Namen gemacht hatten.
Ihr Zuhause war die damals Windeseile aus dem Boden gestampfte Raumstation „Klönschnack“. Und sie hatten sich erstaunlich schnell an die Situation gewöhnt. An die Kälte. Die geringe Gravitation. Den Staub in der Atmosphäre. Die stürmischen Morgen- und Abendwinde. Die Schwerelosigkeit. Die immer gleiche Fertignahrung. Und an die immer gleichen, verklärenden Gespräche über die ach-so-schöne Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ihre Mitbewohner:inen in den Jahren vor der Immigration eigentlich nur am Handy verbracht hatten. Aber nun ja.
Da die Temperaturen nachts oft bis auf -85 °C sanken, hatte Gudrun sich mit einer nachhaltigen und ganz ohne künstliche Energiezufuhr funktionierenden Eiswürfelproduktion einen Namen gemacht. „Gudrun’s Eiswürfel - alles andere kannst du auf den Mond schießen“ Den Slogan hatte Werner zu Gudruns Geschäft beigesteuert. Durch die Monopolstellung, die Gudrun mit Eiswürfeln auf dem Mars hatte, wusste er, dass Werbung ohnehin so unnötig war, wie ein Kropf.
Das Eiswürfel-Unternehmen war ein Traum, den Gudrun schon lange in sich wog. Aber damals auf der Erde hatte sie nie die Zeit, ihn in die Tat umzusetzen. Sie hatte ja so Vieles, was ihren Alltag mehr als ausfüllte: Die Enkelkinder, die Wohnung, die geschäftlichen Termine. Dazu kam noch ihre Tätigkeit als Vogelstimmen-Imitatorin, von der sie Werner nie etwas gesagt hatte. Allein bei dem Gedanken, dass in Wirklichkeit sie die Stimme von Rebhuhn, Rohrdommel und Wüstenuhu in der Netflix-Doku „Birds of the World“ war, und ihr Mann Werner das nicht im Geringsten ahnte, ließ ein schelmisches Vogel-Strauss-Grinsen auf ihrem Gesicht erstrahlen.
Aber die Hauptsache war, dass sie als erfolgreiche Geschäftsfrau auf dem Mars Werner und sich Dinge ermöglichen konnte, von denen andere Marsburger, wie die Hamburger Mars-Enklave sich selbst titulierte, nur träumen. Letztens hatten sie an einer geführten Kraterwanderung teilgenommen, während der Franzbrötchen gereicht und Gedichte von Ringelnatz rezitiert wurden. „Was soll die Scheisse mit Ringelnatz?“ hatte Gudrun den Krater-Guide noch hanseatisch direkt zurechtgewiesen.
Bist du schon auf der Sonne gewesen? Nein? – Dann brich dir aus einem Besen Ein kleines Stück Spazierstock heraus Und schleiche dich heimlich aus dem Haus Und wandere langsam in aller Ruh Immer direkt auf die Sonne zu.
Bist du schon auf der Sonne gewesen? Was für eine Häme angesichts der 227,9 Millionen Kilometer Entfernung, die ihren Wohnort Mars von der Sonne trennten. Egal, wie Gudruns Eiswürfelproduktion auch hochskalieren würde: eine solche Reise war für Gudrun und Werner nicht drin. Und was für ein Shitstorm könnte aus der Eiswürfel-Community auf sie treffen, wenn die Schlagzeile „Eiswürfel Milliardärin chillt in der Sonne“ in der Freien Marsburger Community die Runde machen würde?
Ausserdem war die Wahrscheinlichkeit, die auf der Sonne herrschenden 15 Millionen Grad Celsius zu überleben, realistisch betrachtet, recht gering. Und die beiden trotz des oft eintönigen Mars-Alltags nicht annähernd lebensmüde.
Sie hatten sich. Sie hatten zwei kuschelige Bettchen mit einem horizonterweiternden Ausblick auf die letzen noch aktiven Mars-Vulkane. Und sie hatten gute Freunde. Auch solche, die ihnen so saublöde Geschichten wie diese schreiben.
Und natürlich sind Gudrun und Werner Knopf nicht auf dem doofen Mars. Sondern zuhause in Hamburg. Und ich wünsche mir, dass das so bleibt.
Schon klar, dass das nicht der Mars ist. Aber Menschen auf dem Mars können mit verkniffenen Augen tatsächlich den Mond sehen. Und noch schärfer ihren Heimatplaneten Erde. Und Sonnenauf- und Untergänge gibt es auf dem Mars auch.
Für die Menschen in der Türkei und in Syrien sind die Horroszenarien, dir wir uns bewusst und gewollt in True-Crime-Podcasts reinziehen, blanke Realität. Jede Spende kann das ein kleines bisschen ändern.
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