Was gibt es Schöneres, als anderen Geschichten zu erzählen?
Anderen Geschichten zu erzählen, und echtes Gehör zu finden.
Und jetzt die schlechte Nachricht: Letzteres ist in den Städten der sogenannten Industrieländer ausgestorben. Keiner hört mehr zu. Unsere Kommunikation ist zu einem Tennisspiel geworden, bei dem wir nur noch auf den Moment warten, in dem der Ball wieder in unserem Feld aufschlägt. Wenn wir endlich wieder an der Reihe sind. Wenn wir das Recht zum Sprechen haben. Für einen kurzen Moment. Solange, bis uns unser Gegenüber radikal ins Wort fällt oder unseren eben angefangen Satz auf seine Art ergänzen und zu Ende bringen wird. Mit einer Geschwindigkeit, die nur das Licht toppen kann, entlädt sich in diesem kurzen Moment unser Schwall an unverarbeiteten Erlebnissen.
Und von Geschichten, die keiner hören will.
Die Geschichten, die wir in Reels und Stories und so weiter konsumieren, sind keine Geschichten, die jemand genau uns erzählen möchte. Es sind Geschichten, die wir uns aussuchen. Weil unser Algorythmus befand, dass sie für uns interessant sein könnten. Wenn wir das nicht nach einer halben Sekunde auch so empfinden, wischen wir sie weg. Geschichten, die nicht in unseren ausgesteuerten Interessenradius passen, der sich irgendwo zwischen Katzenbabys, Transition und peinlich-Prank bewegen, tauchen nicht auf. Wir hören also tagein, tagaus Geschichten, die sich irgendwie ähneln. Weil irgendein Algroythmus es will. So langweilig habe ich mir nicht einmal die post-mortale Glückseligkeit vorgestellt.
Das Verhalten, das wir auf diese Art lernen, übertragen wir naturgemäß zwingend auf unser echtes Leben. Beziehungweise das, was davon übrig geblieben ist.
Dabei kann es so schön sein, Geschichten zu erzählen und Menschen zu finden, die sie hören möchten. Die im Anschluss vielleicht ihre eigenen Geschichten erzählen. Woraus Gedanken entstehen, die sich gegenseitig bereichern, sich austauschen, Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrnehmen und entdecken lassen. Bei denen man dazulernt, gemeinsam lacht, gemeinsam weint, echtes Miteinander und echtes Mitgefühl erlebt.
Früher, da hatte man sich noch über Gespräche mokiert wie „Das Rezept von dem Nudelsalat musst du mir unbedingt geben.“ Heute existiert diese Art von Gesprächen nicht mehr. Der Nudelsalat heisst nicht mehr Nudelsalat, sondern Happy Throng Vegan Protein Noodle Bowl. Jeder stellt sich seine Dips, Toppings, Add-ons und Flavours zusammen. Ein letzter Ausdruck scheinbarer Individualität, die längst keine mehr ist.
Unsere aufgespritzen Oberlippen formieren ein affektiertes „oh my God wie lecker is das, ich schwöre", während unsere Scrollfinger den gelieferten Food aufnehmen, wir uns selbst filmen und fotografieren und überhaupt nichts mehr spüren. Wer live ist, kann nicht auch noch schmecken.
Lieferando hat seinen Unternehmenssitz in Amsterdam, gehört zum Konzern Just Eat Takeaway, und sein unternehmerischer Vorgänger wurde angeblich im Rahmen eines Familienfestes im Jahr 2000 von dem damals 21-jährige Jitse Groen entwickelt. Laut Narrativ wollte der Student im Internet Essen bestellen, konnte aber nur eine Restaurant-Liste finden. Aufgrund dieses lebesbedrohlichen Problemchens #sorrytoocynical kam er auf die Idee, ein Onlineportal zu entwickeln, das Lieferdienste bündelt.
Noch vor etwa 100 Jahren begannen Erfolgsgeschichten mit Menschlichkeit und Mitgefühl.
Ein kleines Mädchen, dessen Vater und Mutter gestorben waren, und das so arm war, dass es nicht einmal mehr ein Bettchen hatte, um darin zu schlafen, gibt sein letztes Stück Brot ab.
Kurze Zeit später wird es im Unterhemd von Goldmünzen beregnet.
Heute beginnen Erfolgsgeschichten mit Luxusproblemen, auf die eine:r eine einfache und das Luxusproblem lösende Antwort hat, eine App erfindet. Unsere Erfolgsgeschichten beginnen heute mit Todsünden, aus denen Kapital geschlagen wird.
Die Gier, alles sofort haben zu wollen. Sofort jedes Essen. Dafür wurde Lieferando erfunden. Sofort jedes Produkt. Dafür wurde Amazon erfunden. Sofort jeden Song hören. Dafür gibt es Spotify. Sofort jeden Film sehen. Dafür gibt es Netflix.
Die Tugend der Geduld wird vernichtet, macht aber eine einzige Person unglaublich reich.
Für Hochmut gibt es Instagram.
Für Hass die Kommentarfunktion.
Für Wolllust OnlyFans.
Die Antwort auf Geiz hat check24.
Auf Faulheit und Völlerei zahlen alle Social Media Plattformen gemeinsam ein.
Mehr Todsünden gibt es nicht.
Moment, ich habe da gerade eine Marktlücke entdeckt: Welche Social Media Platform oder welcher digitale Services lässt einen die Todsünde Zorn so richtig ausleben? Ich denke, das müsste noch erfunden werden. Denn Hatekommentare und bild.de schüren zwar Hass und versauen anderen den Tag, aber so richtig Zorn ausleben, das schafft bisher kein digitales Tool.
Ich würde mich ja direkt daran machen, es zu erfinden, aber erstens kenne ich keine Programmierer:innen, die mein zorniges Start-up supporten würden. Und zweitens hat mir
das mit der Menschlichkeit irgendwie besser gefallen
Und was es dir jetzt gebracht hat, bis hier zu lesen, das weiß ich auch nicht.
Jedenfalls ist dies hier keinesfalls Gegenwarts- oder Generationenschelte. Wären unsere Großmütter und Großväter heute jung, sie würden genau so TikTok Reels suchten, genau die gleichen Truecrime und Laberpodcasts konsumieren, genau sooft Delivery Services nutzen und bei Amazon bestellen und genau sooft das eigene Verhalten in Frage stellen, wie wir heute.
Aber sie hatten diese Möglichkeiten nicht. Sie leben in einer Zeit, als es all das nicht gab. Das ist der einzige Unterschied. Und genau wie es damals Menschen gab, die sich gegen das stellen, was alle tun, gibt es auch heute Menschen, die die Schädlichkeit des eigenen Medienkonsums nicht nur erkennen, sondern auch ändern.
Ich selbst gehöre auch dazu. An etwa einem von 365 Tagen im Jahr.
Aber bei Lieferando habe ich noch nie etwas bestellt. 🏆 ☺️.
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